Im Geburtsland Japan heißt es »Shinrin Yoku«, bei uns »Waldbaden«. Die Anti-Stress-Methode verspricht einen wissenschaftlich nachweisbaren Effekt auf das Wohlbefinden und hat nichts mit Esoterik, Hokuspokus oder Spiritualität zu tun. Im Wald rüstet das Immunsystem die Abwehr auf und der Geist findet mit Achtsamkeitsübungen zur Ruhe.

Wenn Beate Kneip mit Kursteilnehmern in den Wald geht, wollen sie Stress und Hektik des Alltags hinter sich lassen. Der Kopf ist noch voller Gedanken, wenn sie am Treffpunkt nahe der Wallfahrtskapelle Schankweiler Klause im Eifelkreis Bitburg-Prüm aus den Autos steigen und Regel Nummer eins lernen: Ab jetzt keine Alltagsgespräche mehr. Drei Stunden später ist der Kopf frei. Der Atem fließt tiefer und ruhiger, der Puls geht langsamer. Shinrin Yoku hat gewirkt.
Stehen wie ein Baum
Nach den ersten hundert Metern auf dem Hauptwanderweg biegt Beate Kneip auf einen Nebenpfad ab. Hier trifft man keine Menschenseele und taucht noch tiefer in die Natur ein. Um richtig anzukommen und loszulassen, verharrt die Gruppe hier und folgt der Achtsamkeits- und Entspannungstrainerin in eine Übung aus dem Qi Gong: Stehen wie ein Baum. Augen schließen, aufrichten und den festen Stand spüren, tief verwurzelt. Danach erklärt Beate Kneip die 3-2-1-Übung. »Sie ist ideal für den Beginn eines Waldspaziergangs, um unsere Sinne zu öffnen.« Die Teilnehmer sollen bei ihrem langsamen Gang durch den Wald erst drei Grüntöne sehen, drei Dinge ertasten und drei Körperwahrnehmungen erspüren. Danach die Wiederholung mit jeweils zwei Wahrnehmungen, dann einer.
Training für die Sinne
»Im Alltag nutzen wir unsere Sinne viel zu wenig. Wer seine Sinne dagegen trainiert, entdeckt Neues, das ihm vorher entgangen ist. »Das eröffnet neue Blickwinkel«, erklärt Beate Kneip und lässt sich auch aufs alltägliche Leben übertragen. Wichtig sei es, die Umgebung mal ohne Bewertung und Interpretation wahrzunehmen. »Das gibt mir mehr Freiheit und Klarheit in meinen Entscheidungen.«
Die Wahrnehmungsübungen sind auch dazu da, die gesundheitlichen Effekte, die das »Shinrin Yoku«, wie das Waldbaden in seinem Geburtsland Japan genannt wird, zu verstärken. Dort widmen sich Wissenschaftler der Erforschung der gesundheitsfördernden Wirkung. Nachgewiesen ist, dass der Aufenthalt und die Übungen im Wald den Cortisol- und Adrenalinspiegel senken, der Pulsschlag normalisiert sich und der Blutdruck sinkt. Der Schlaf wird tiefer und erholsamer und die Anzahl der natürlichen Killerzellen im Körper steigt.
Abwehrkräfte steigern
Beate Kneip spricht von den Terpenen, den ätherischen Ölen, die Bäume in der Luft verbreiten. Eigentlich dienen sie als Botenstoffe, um andere Pflanzen vor Schädlingen zu warnen. Sie könnten der Schlüssel sein, warum sich die menschlichen Abwehrzellen beim Atmen der Waldluft vermehren. Um die Atmung geht es auch bei der nächsten Übung im Stehen. Mit dem Einatmen wandern die gestreckten Arme seitlich über den Kopf, beim Ausatmen senken sie sich wieder. »Wir weiten dabei den Brustkorb und die Lunge und öffnen das Herz«, erläutert Kneip.
Achtsamkeit und Natur
Beate Kneip ist eigentlich Heilpraktikerin für Psychotherapie. 2014 hat sie das Waldbaden für sich entdeckt und ihre Abschlussarbeit für die Zertifizierung zur Natur- und Landschaftsführerin darüber geschrieben. Im Shinrin Yoku hat sie eine Methode gefunden, die ihre beiden Herzensthemen verbindet: Achtsamkeit und Natur. In ihre Kurse, die entweder durch den Wald bei Schankweiler oder bei Oberweis führen, lässt die 55-Jährige wirksame Methoden aus ihren verschiedenen Ausbildungen einfließen. »Was ich gut finde, baue ich ein.« Nach dem Kurs kann jeder die Übungen immer wieder für sich alleine beim Waldspaziergang anwenden. Dazu gehört die »Baumbegegnung«. Kneip schlägt vor, sich von einem Baum »anziehen« zu lassen. Zehn Minuten lang widmet sich dann jeder »seinem« Baum, findet mit dem Auge die Tierchen, die auf dem Stamm krabbeln, streicht über die Rinde und fühlt den Moosbewuchs. Wäre es nicht noch zu kalt, würden die Schuhe ausgezogen und das weiche Moos auch barfuß auf dem Waldboden erspürt.
Das innere Auge
Statt mit den nackten Füßen zu »sehen«, richtet sich die Aufmerksamkeit bei einer anderen Übung wieder mit Hilfe der Augen auf den Boden. In dem Experiment nimmt sich jeder Kursteilnehmer einen Quadratmeter Waldboden vor und konzentriert sich darauf, was er bei genauem Hinsehen hier alles entdeckt. Später richtet sich das Sehen auch auf das »innere Auge«, das bei geschlossenen Lidern versucht, die Umgebung zu reproduzieren. Über allem steht, sich Zeit zu nehmen, um sich auf etwas einzulassen. Das gelingt beim Shinrin Yoku in der Regel besser als bei anderen Auszeiten, die man sich vermeintlich gönnt. »Die Freizeit, die man sich im Alltag nimmt, ist doch immer gefüllt«, bemerkt die Achtsamkeitstrainerin.
Anfängergeist mit neuen Augen
Beim Waldbaden vermittelt Beate Kneip eine Einstellung, die vom üblichen Sehen zu einem anderen Betrachten der Dinge überleitet. »Mit neuen Augen« sehen, nennt sie die Technik und spricht vom »Anfängergeist«, einer veränderten inneren Haltung, mit der man auf etwas zugeht als würde man es zum ersten Mal wahrnehmen. »Das eröffnet mir neue Möglichkeiten.« Beim Waldbaden lässt sich das üben.
Beate Kneip hat noch eine Erklärung, warum der Wald so gut tut: »Unser Alarmsystem für Gefahr und Stress im Gehirn kann im Wald abschalten.« Hier kann man sich eine Auszeit nehmen, auch eine Auszeit vom Lärm. »Die Stille ist sehr wohltuend und erholsam.« Auch über die Nase kommt das Wohlgefühl. Denn vor allem Gerüche haben eine direkte Wirkung auf unsere Stimmung. Und im Wald ist die Palette riesig. Zur Demonstration pickt Kneip ein Stückchen Harz von einer Baumrinde und lässt daran schnuppern. Der ätherische Duft nimmt den direkten Weg ins Stammhirn und löst über das limbische System ein genussvolles Gefühl aus.
Am Ende des Weges ist der Akku aufgeladen. Wer sich daran erinnern will, dass er dazu nur in den Wald gehen muss, dem gibt Beate Kneip einen Buchenblatt großen Stein mit nach Hause.












Interview mit Heilpraktikerin Beate Kneip
Während Sie einfach die Natur auf sich wirken lassen, baut Ihr Körper auf ganz natürliche Weise Stresshormone ab«, erläutert Beate Kneip ein scheinbar einfaches Prinzip.
Was macht das Waldbaden aus?
Beate Kneip: Durch das Eintreten und Abtauchen in die Welt des Waldes kommen Körper, Geist und Seele zur Ruhe, finden Erholung und schöpfen neue Kraft.
Warum tut der Wald so gut?
Beate Kneip: Die Natur ist unser ursprünglicher Lebensraum und so führt allein die reine Anwesenheit im Wald schon zu mehr Wohlbefinden. Dazu kommt die Waldluft mit ihren tausenden von bioaktiven Substanzen, die unsere Abwehrkräfte stärken.
Welche Methode wenden Sie beim Baden in der Waldluft an?
Beate Kneip: Ich baue Elemente aus Meditation, Qi Gong und der Achtsamkeitspraxis ein. Sie unterstützen und vertiefen die wohltuende Wirkung der Natur. Die Teilnehmer können diese als Anregungen mitnehmen für eigene Waldspaziergänge und ganz allgemein auch für eine gesündere und gelassenere Lebensweise.
Wann finden die nächsten Kurse mit Ihnen statt?
Beate Kneip: Geplant sind Termine im Mai, Juni und September. Wir gehen leichte Strecken von ca 4,5 Kilometern über Waldwege. Dabei lassen wir uns viel Zeit. Mit drei bis vier Stunden muss man jeweils rechnen.
Was sollen Teilnehmer mitbringen?
Beate Kneip: Ich empfehle festes Schuhwerk, wetterangepasste Kleidung und eventuell etwas zu trinken. Hunde und Handys bleiben ausnahmsweise zuhause, damit jeder seine ungestörte Auszeit in der Natur erleben kann.
Von Sybille Schönhofen (Fotos und Text)