Vom Führen zur Fürsorge: Top-Managerin Vera Schneevoigt hat ihre Konzernkarriere gegen Elternpflege getauscht. „Warum?“, haben wir sie gefragt.
Vera Schneevoigt gehört zu Deutschlands Top-Managerinnen. Nach 38 Berufsjahren, davon 20 Jahre in Leitender Position, hat sie auf eigenen Wunsch die Konzernwelt verlassen, um sich gemeinsam mit Ehemann Thomas um ihre Eltern und Schwiegereltern kümmern zu können. Ihre Entscheidung hat sie öffentlich kommuniziert.

Vera Schneevoigt gehört zu Deutschlands Top-Managerinnen. Nach 38 Berufsjahren, davon 20 Jahre in Leitender Position, hat sie auf eigenen Wunsch die Konzernwelt verlassen, um sich gemeinsam mit Ehemann Thomas um ihre Eltern und Schwiegereltern kümmern zu können. Ihre Entscheidung hat sie öffentlich kommuniziert.
Mehr als 20 Jahre hat Vera Schneevoigt (58) als Top-Managerin gearbeitet, hat ein Leben auf der Überholspur geführt – um festzustellen: „Das ist nicht das Wichtigste im Leben.“ Die Konsequenz daraus hat sie gezogen und 2021 ihren gut dotierten Job als Chief Digital Officer bei Bosch gekündigt. Als sie ihre Entscheidung öffentlich macht und mit der Pflege der Eltern begründet, erntet sie nicht nur Beifall. Dass gerade sie als bekennende Feministin freiwillig in die von der Gesellschaft definierte Rolle der Frau zurückkehre, sei enttäuschend und nicht nachvollziehbar, bemängelten einige ihrer Kritiker.
„Es ist ein Privileg, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden“, hält Vera dagegen und argumentiert auf die ihr eigene, nüchtern-sachliche Art. „Du musst für Dich eine Identität finden, die mehr ist als der Status einer Position. Wir wollten unser Leben neu ausrichten und mehr Zeit für die wirklich wichtigen Menschen haben“, sagt sie und meint mit „wir“ sich und Ehemann Thomas (55), durch den sie im Laufe der Jahre zum Familienmensch geworden sei.
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Veras Eltern leben im Westerwald, Thomas’ Mutter in Mayen. Weil Vera die Eifellandschaft (ihre Mutter stammt aus Wittlich) kennt und liebt, ist sie die treibende Kraft für den Umzug von München nach Mayen. Von hier aus gelingt ihnen das, was sie unter „Kümmern“ verstehen: die Pflege der Eltern klug zu managen, ihnen Zeit zu schenken, den Behördenkram zu erledigen und vor allem, sie neu kennenzulernen.
Vera Schneevoigt im Fernsehen
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„In meinem Job und aus rund 500 Kilometer Entfernung wäre das nicht realisierbar gewesen“, hatten sich beide eingestanden. „Unsere Eltern sind Kinder der Nachkriegsgeneration. Sich um sich selbst zu kümmern und nicht auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, liegt in ihren Wurzeln“, erläutert Thomas, der damit das Thema Vertrauen anspricht, das im gegenseitigen Kennenlernen neu erarbeitet werden musste. Und das sei nicht immer einfach gewesen, bekennt Vera ganz offen. „Es kommt ja auch irgendwann das alte Leben mit den alten Konflikten wieder hoch.“ Sich diesen zu stellen, erfordere vor allem eins: Zeit, die sie jetzt habe.
GESELLSCHAFT IM WANDEL
Zu wenig beschäftige sich die Gesellschaft mit dem Thema Älterwerden und den Konsequenzen daraus, fährt Vera fort und fordert die Unternehmen auf, hierfür Verantwortung zu übernehmen und entsprechende Bedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen, um Job und Pflege der Eltern miteinander vereinbaren zu können. „Man muss über Lebensarbeitsmodelle nachdenken“, regt Thomas an. „Unsere derzeitigen Arbeitsmodelle sind nicht mehr zeitgemäß. Sie stammen aus Industrie und Produktion. Aber heute muss ich mehr Individualität zulassen. Das umzusetzen, ist für ein Unternehmen schwierig“, weiß Thomas, der als selbstständiger Coach für Unternehmensführung arbeitet, aus Erfahrung.

Studien zeigen, dass statt der dringend notwendigen Veränderungen die Gesellschaft noch immer auf den ausgetretenen Pfaden wandelt, die die fortbestehende Ungleichbehandlung von Mann und Frau in der Arbeitswelt hinterlassen hat. Weil Frauen im Vergleich zu Männern seltener in Führungspositionen arbeiten und zudem noch schlechter bezahlt werden, gilt es noch immer als selbstverständlich, dass sie im Job kürzer treten, wenn die Eltern pflegebedürftig werden. „Von Gleichberechtigung sind wir da weit entfernt“, analysiert Vera die gesellschaftliche Situation.
Die nächste Generation auf diese Herausforderung vorzubereiten, hat sie sich deshalb als Ziel gesetzt. Und dabei ist sie nicht leise. In Podcasts wie „Die Tech-Löwinnen“ – ein Projekt, das sie gemeinsam mit Dr. Katharina von Knop ins Leben gerufen hat – diskutiert sie die Problematik offen und schafft Denkanreize für Neues. Denn auch weiterhin ist sie in den Themen Technologie und Netzwerken aktiv unterwegs. So hat sie eine Beraterinnen-Rolle beim Start-up „Devanthro“ angenommen, das sich mit Roboiden beschäftigt, die in der Pflege eingesetzt werden können. Dabei profitiert sie sehr stark vom Kontakt mit jungen Menschen: „Sie haben tolle Ideen, wie Technologie, Altwerden und Pflege intelligent und sinnvoll miteinander verbunden werden können.“
AUF DER ANDEREN SEITE DES SCHREIBTISCHS
„Verantwortung für Menschen zu übernehmen, war der größte Teil meines beruflichen Lebens“, fährt Vera fort. „Als Führungskraft musste ich schwierige Aufgaben erledigen, bei denen man nur verlieren kann. Dazu gehörten Standortschließungen und Entlassungen.“ Dabei habe sie ein Modell für sich entwickelt, das zwar nicht 1 : 1, aber in den Grundzügen auch auf den privaten Bereich übertragen werden könne: „Rational entscheiden, aber nie vergessen, dass ein Mensch vor mir sitzt.“ Zuhören und sich in den anderen hineinversetzen zu können, gelinge nur, wenn der eigene innere Konflikt gelöst sei, gibt Thomas zu bedenken.
„Die Resilienz unterscheidet einen als Führungskraft“, nickt Vera zustimmend. Dabei seien ihr vor allem die Erfahrungen im Ausland zugute gekommen. Mehr als 40 Länder hat sie bereist. „Brasilien und Japan haben mir einen anderen Blick auf die Menschen gegeben“, so die ehemalige Top-Managerin. Japan beispielsweise lege viel Wert auf gesellschaftliche Verantwortung und ein Leben in Balance. „Hier habe ich zum ersten Mal gelernt, auf mich selbst zu achten“, markiert Vera einen wichtigen Punkt in ihrem Leben.


Ohnehin sei Vielfalt die Voraussetzung, über den eigenen Horizont hinausschauen zu können, sagt sie und spricht ein Thema an, das ihr sehr am Herzen liegt: das Kümmern um Menschen mit Migrationshintergrund. Sie selbst und ihr Mann haben 2015 eine Patenschaft über zwei syrische Brüder übernommen, die ohne elterliche Begleitung das Kriegsgebiet verlassen hatten. „Die Jungs haben mir Einblicke gegeben, was wirklich wichtig ist im Leben“, sagt sie nachdenklich. Aber auch die Ahr-Flut hat ihre Spuren hinterlassen, denn nur ein glücklicher Zufall hatte verhindert, dass Thomas’ Eltern von den Wassermassen erfasst wurden.
„Das ist das echte Leben“, sagt Vera, die sich seitdem für die Initiative „FlutMut“ engagiert. „Es fühlt sich anders an, ehrlicher.“
INFO
Vera Schneevoigt gehört zu den Top-Frauen der deutschen IT- Branche. Sie ist ausgewiesene Expertin für das Internet der Dinge (IoT), Industrie 4.0 und digitale Transformation. Bis 2022 war Vera Schneevoigt Chief Digital Officer und Entwicklungsleiterin bei Bosch Building Technologies, davor Geschäftsführerin und Executive Vice President beim japanischen Konzern Fujitsu Technology Solutions. Beim US-amerikanisch geführten Joint-Venture Unify war sie als Executive Vice President und Geschäftsführerin verantwortlich für über 1.700 Angestellte.
Vera Schneevoigts Berufslaufbahn ist außergewöhnlich, hat sie doch kein klassisches Betriebswirtschaftsstudium absolviert, sondern sich nach der kaufmännischen Ausbildung nach oben gearbeitet und schließlich Führungspositionen übernommen. Dass sie aus einer Arbeiterfamilie stammt, hat ihr nach eigenen Angaben insbesondere im Umgang mit den Angestellten geholfen. Ihr Vater war von Beruf Schweißer. Als Betriebsratsvorsitzender hatte er sich viele Jahre für die Belange der Arbeitnehmer stark gemacht.
2021 hat Vera Schneevoigt gekündigt, um ihre Eltern und Schwiegereltern bei der Pflege zu unterstützen. Das Übergangsjahr bis zu ihrem Ausscheiden nutzte sie in Teilzeit, um sich schon mal auf die neuen Aufgaben vorzubereiten. Trotz der neuen, ungewohnten Belastung schafft sie es, weiterhin beruflich aktiv zu sein, u.a. als Beraterin für Start-ups und Speaker bei Podiumsdiskussionen. Darüber hinaus wird sie verstärkt ins Unternehmen ihres Mannes »Guiding für Future« einsteigen, wo sie bereits Mitgesellschafterin ist.
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Fotos: Edith Billigmann